Die Bibliothek(en) von Karl Wolfskehl: Geschichte einer Zerstreuung

 

In einem Brief beschrieb der Dichter, Übersetzer und zuvörderst Sammler Karl Wolfskehl seine umfangreiche und einzigartige Bibliothek einmal als »eine Art autobiographische[s] Denkmal«. Diese existentielle Rückkopplung von Buchbesitz und eigener Vita wiegt in der Rückschau auf die Geschichte der Bibliothek schwer, denn die Bände teilten das bewegte Schicksal ihres Besitzers – wenn auch auf eigenen, sich zerstreuenden Wegen: Vier Jahre, nachdem Wolfskehl das nationalsozialistische Deutschland 1933 in Richtung Schweiz und Italien verlassen hatte, verkaufte er einen Großteil der knapp 9.000 Bände umfassenden ursprünglichen Bibliothek an den Verleger Salman Schocken, um mit dem Erlös seine endgültige Emigration nach Neuseeland zu finanzieren.

Der größere Teil der Sammlung ging auf diesem Weg 1938 nach Jerusalem, wo er am Schocken Institute for Jewish Research lange Zeit verwahrt wurde, bis es Mitte der 1970er Jahre zu einer thematischen Konzentration der Schocken Library durch die Erben des Verlegers kam. Wiederum andere Exemplare begleiteten den »großen Bücherkundigen« (Walter Benjamin) nach Auckland und bildeten den Grundstock für eine neue Bibliothek, bestehend aus Zukäufen und Einsendungen aus aller Welt. Nach Wolfskehls Tod gingen sowohl Bände aus Jerusalem als auch aus Auckland in den internationalen Handel und hierüber zum Teil zurück in deutsche Sammlungseinrichtungen wie das DLA Marbach.

›Die‹ Autorenbibliothek von Karl Wolfskehl, verstanden als ein geschlossen überlieferter Bestand aus ehemaligen Privatbesitz, gibt es also heute nicht mehr. Die Besonderheit bzw. der besondere Erkenntniswert der Wolfskehl-Bibliothek(en) liegt stattdessen gerade in ihrem Moment der Zerstreuung: Im Faktum der erzwungenen Mobilität, Diskontinuität und Zirkulation, für die sie als exponiertes Beispiel translozierter Kulturgüter nach 1933 steht. Demgemäß verstanden als ein Werk eigenen Rechts wird die Bibliothek mitsamt ihrer Zerstreuungsgeschichte hier im VFR des MWW abgebildet und rekonstruiert.

Über das Projekt

Die Erforschung von Karl Wolfskehls Bücherbesitz und dessen Zerstreuungsgeschichte fand am DLA Marbach während der ersten Förderphase des MWW-Forschungsverbundes (2014–2019) und hier wiederum im Teilprojekt Autorenbibliotheken: Materialität – Wissensordnung – Performanz statt. Institutionelle Kooperationen und thematische Verbindungslinien bestanden und bestehen dabei zum Lehrstuhl für Jüdische Geschichte und Kultur an der Ludwig-Maximilians-Universität München und dem Schocken Institute for Jewish Research in Jerusalem. Die Ergebnissicherung ist seit 2018 durch die Monographie Der Sammler Karl Wolfskehl gewährleistet, in der Caroline Jessen das Sammelverhalten Wolfskehls, die Geschichte der Bibliothek und deren Nachleben umfassend aufgearbeitet hat. Mit zusätzlicher Förderung durch die Karl-Wolfskehl-Stiftung sowie Zuwendung privater Unterstützer konnte während des Projektzeitraums zudem der ermittelbare Buchbesitz von Wolfskehl virtuell rekonstruiert werden. Dieser virtuelle Katalog umfasst mehr als 12.300 Einzelobjekte und bildet den historischen Stand der Bibliothek am Standort Kiechlinsbergen, vor Wolfkehls Exil ab. Durch die Rekonstruktion wird der in Marbach befindliche Nachlass um die Vorteile der digitalen Sammlungsumgebung ergänzt und ermöglicht Benutzer:innen, die erschlossenen Bände auf Exemplarebene als Teilbestand des allgemeinen DLA Online Katalogs Kallias zu durchsuchen.

Die Exponatsbeschreibungen innerhalb der virtuellen Bücherausstellung stammen von Wolfskehl-Expert:innen, Fachwissenschaftler:innen sowie von MWW-Forschungshospitant:innen. Allen Mitwirkenden sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Kürzere Exponatsbeschreibungen sind, wo nicht anderweitig markiert, auf Grundlage von Der Sammler Karl Wolfskehl entstanden. 

Als exponiertes Beispiel für eine gleichermaßen gebrochene wie globale Überlieferungsgeschichte seit 1933, hat das Projekt zudem modellbildenden Charakter für die MWW-Fallstudie Transatlantischer Bücherverkehr, die in der zweiten Förderphase (2019–2024) weitere Migrationswege und Transferrouten von Literatur- und Kulturgütern seit 1933 erforscht.