Zeitdiagnose aus dem US-Exil: Kurt Pinthus und Thomas Mann

Einunddreißig Werke Thomas Manns befinden sich in Kurt Pinthus‘ Bibliothek, jedoch nur eines von ihnen, eine Essaysammlung Manns mit dem vielsagenden Titel Achtung, Europa!, enthält eine persönliche Autorenwidmung. »Kurt Pinthus erfreut über seinen Besuch, Princeton 6. II. 39«, hielt Mann darin fest. Die Widmung liefert einen wichtigen Hinweis auf ein Treffen der beiden im amerikanischen Exil, wenige Monate vor dem Ausbruch des zweiten Weltkriegs. Weitere Zusammenkünfte zwischen Mann und Pinthus sind nicht belegt; daher erweist sich gerade dieses rekonstruierbare Treffen als äußerst interessant in Hinblick auf die räumliche sowie publizistische Vernetzung deutscher Exilschriftsteller:innen nach 1933.

Das Treffen fand im Jahr 1939 in Princeton (New Jersey) an der amerikanischen Ostküste statt, wo Mann lehrte und mit seiner Familie lebte. Die beiden Männer trafen sich dort am 6. Februar in Manns Wohnhaus. Ein Tagebucheintrag Manns vom gleichen Tag hält den Besuch – und womöglich sogar die Übergabe des hier abgebildeten Widmungsexemplars – fest. Eingebettet in Notizen zu seinem akribisch dokumentierten Privatalltag heißt es dort: »Plan der Begründung eines neuen Fonds zur Bekämpfung des Hitler aus amerikanischen Mitteln. (Finanzierung des ‚Vorwärts‘) – Belastend. – Im Stuhle geruht. Zum Thee außer Meisel [Manns Sekretär Hans Meisel] – Prof. K. Pinthus. Mit ihm [im] Arbeitszimmer, Befragung u. Einhändigung von Literatur.«[1] Die fast zweihundert Seiten starke Essaysammlung Achtung, Europa! Aufsätze zur Zeit erschien im Oktober 1938, wenige Monate vor dem Treffen in Princeton, im ebenfalls exilierten S. Fischer-Verlag in Stockholm. Sie bietet einen exemplarischen Querschnitt durch alle Spielarten des publizistischen Einsatzes Manns gegen die, wie er es selbst nannte »fascistische Infiltration in politischer, moralischer, intellektueller Beziehung«[2]: Eine öffentlich gehaltene Rede (Appell an die Vernunft, gehalten am 17. Oktober 1930 in Berlin) und Manns Antwort auf die Aberkennung seines Ehrendoktortitels durch den Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn nach seiner Ausbürgerung, stehen neben mehreren Beiträgen, die zuvor in von Mann gegründeten politischen Auslands- und Emigrantenzeitschriften erschienen waren und hier nochmals gesammelt wurden. Die Texte zeigen die zeitdiagnostische sowie stilistische Treffsicherheit von Manns politischer Essayistik, die spätestens im US-amerikanischen Exil zum Ausdruck seines unerschütterlichen Engagements für eine günstige Einflussnahme auf die Geschehnisse in Europa am Vorabend des Zweiten Weltkriegs wurde.

 

Sina Stuhlert und Fiona Walter

In geänderter Fassung zuerst erschienen als MWW-Blogbeitrag unter: https://www.mww-forschung.de/news/neuigkeiten (Zugriff: 20. Februar 2024).

 

[1] Thomas Mann: Tagebücher in zehn Bänden. Tagebücher 1937–1939. Bd. 4., hg. von Peter de Mendelssohn. Frankfurt/Main 1980, S. 357.

[2] Thomas Mann: Die Höhe des Augenblicks. Ein Vorwort, in: ders.: Achtung, Europa! Aufsätze zur Zeit, Stockholm 1938, S. 11–35, hier S. 15.

Thomas Mann: Achtung, Europa! Stockholm 1938, DLA Marbach (BKP4), Foto: Anja Blesser

Thomas Mann: Achtung, Europa! Stockholm 1938, DLA Marbach (BKP4), Foto: Anja Blesser.