Bücherbiographien

 

Wer sich für den Lebensweg eines Buches interessiert, interessiert sich für seine von Wechselfällen gekennzeichnete Karriere. Die instabile Konstanz von Büchern in der Hand eines Besitzers und einer Besitzerin, an einem Ort oder in einer Sammlung besteht, seit es Bücher gibt. Sie hat verschiedene Gründe: Veränderungen des Geschmacks und der intellektuellen Bedürfnisse, existentielle und finanzielle Einschnitte, Vererbung und Verschleiß und sehr grundsätzlich das Ableben der Besitzer; ferner die ökonomischen, politischen und sozialen Folgen von Krieg und Krise, die Verkauf, freiwillige oder unfreiwillige Abgabe, Auflösung bis hin zur Vernichtung bedingen. Die Biographie eines Buches ist als die gemeinsame Geschichte des Buches mit seinen Lesern, Benutzern und Sammlern, mit seinen Verkäufern, Erben und illegalen Erwerbern zu verstehen.

Grundsätzlich sind Überlegungen zu Biographien von Dingen und Objekten die Folie, vor der die Aufmerksamkeit für Buchgeschichten gewachsen ist. Die Einsicht, dass auch Dinge Karrieren besitzen, fordert dazu heraus, den Objektcharakter eines Buches stärker zu beachten; fordert dazu auf, jenseits der Lektüre auch den Provenien­zen (vormalige Besitzer, individualisierte Einbände, Exlibris, Rechnungen) und Eingriffen in die Materialität eines Buches durch seine Besitzer und Besitzerinnen und sonstigen möglichen Auswirkungen auf seine Gestalt (etwa Brandkatastrophen, Kriege) nachzugehen. Der biographische Ansatz konzentriert sich damit auf die Geschichte eines Buches, nachdem es hergestellt wurde. Und genau genommen beginnt die Biographie eines Buches mit seinem Eintritt in ein Interaktionsverhält­nis mit Menschen. Sie schreibt sich dann fort als Narrativ der Konjunkturen seines Gebrauchs wie auch Nichtgebrauchs. Nimmt man die Biographie eines Buches ernst, dann lassen sich aus seiner materiellen Verfasstheit Befunde für eine exemplarspezifische Mikrohistorie extrapolieren, und zwar Lektürepraktiken und Buchgebrauch, aber auch >nur< Überlieferung, Besitzwechsel und Zirkulationswege.[1]

 

Biographien von Büchern – Geschichten von Menschen

Natürlich ist jedes Buch jenseits seines Status als Objekt, das eine Karrriere und Biographie besitzt, grundsätzlich Träger von Zeichen, sprich Informationen. Bücher wollen in die Hand genommen, aufgeschlagen, angeschaut und gelesen werden. Geschieht dies, generieren und kommunizieren Bücher Sinn. Sicherlich beansprucht jedes Buch eine eigene Biographie, doch bemisst sie sich an der Interaktion mit den Menschen, die das Buch verfassen, produzieren, verlegen und verkaufen, erwerben, vererben und verschenken, sammeln, verlieren oder stehlen, bearbeiten und vielleicht verbrauchen. So bewahren Bücher die Lebensspuren von Menschen, die zu ihnen greifen, um sich Rat zu holen, Geschichte zu dokumentieren oder ihren Unmut auszudrücken. Alte Bücher werden zu Spiegeln einer Vergangenheit, in der sie selbst eine Laufbahn antraten und in der sie benutzende Menschen lebten, die vielleicht längst nicht mehr sind, von denen aber die Bücher künden.

In einer literarischen Erzählung von Ulrich Peltzer, die im New York der Gegenwart spielt, treten alte Bücher als Fernrohre in die Vergangenheit auf. Einem Mann, der in der „sicher verschlossene[n] Burg“ der Public Library sitzt, begegnen beim Durchsuchen alter Taufregister neuenglischer Gemeinden „Variationen von Schreibweisen, fehlende[] oder plötzlich dazugekommene[] Buchstaben, die sich in die Worte einschmuggeln von einer Spalte zur nächsten; scheinbar vorsätzlich […] und nicht nur, weil die Beamten, die Pfarrer, zu ungenau hinsahen, was in den Büchern schon stand, von ihren Vorgängern aufgeschrieben wurde mit Feder und Tinte, wie jemand heißen soll, Vater und Mutter. [...] es kommt ans Licht das Familienregister von New Hebron aus dem Jahre 1804, mit Federkiel geschriebene Namen und Zahlen, Tintenspritzer, zerflossene Buchstaben. Da tauchen Sippen auf und verlieren sich, Geschäfte werden gegründet, Farmen versteigert, Konzessionen erteilt, gar nicht selten von Band zu Band in einem Geschlecht derselbe Beruf, über Generationen hinweg vererbt […] Man möchte Geschichten dazu erfinden, das Gerippe der Daten, einzelner Worte, kryptischer Bemerkungen auffüllen mit den Kapiteln des Dramas, das man dahinter vermutet, nachhallend bis durch die dürren Angaben hindurch; immer wieder schweifen die Gedanken ab, entzündet sich die Fantasie an einem Schnörkel auf den oft rissigen, von Falzspuren gezeichneten Seiten […] man glaubt, die Hand sehen zu können, die diese Bögen zog, zu beobachten, wie sie ausstrich, Majuskeln verzierte oder Sternchen und Kreuze in eigenwilliger Form aufs Papier setzte. Wie mag der, dem sie gehörte, gewesen sein, fragt man sich manchmal, berührten ihn die Schicksale überhaupt, die er in seinem Buch protokollierte, oder ließen sie ihn kalt […]".[2]


Alte Bücher haben oft lange Wege hinter sich. Provenienzerschließung erfordert Konzentration, Spürsinn und Findeglück. Manchmal lässt sich eine Herkunft an eindeutigen Zeichen festmachen, manchmal finden sich nur Indizien. Bücher können selbst mittels exemplarspezifischer Merkmale von ihrer Karriere erzählen, sie können sich aber ebenso gut über ihr Woher ausschweigen. Externe Quellen müssen oft helfen, Bücherleben und Bücherwege zu ermitteln und zu bestätigen. Die folgende interaktive Karte verzeichnet die Wege von 14 ermittelbaren Titeln aus der Lakemacher-Bibliothek mit nachgewiesener Lakemacher-Provenienz, indem sie ihre biographischen Stationen geographisch verzeichnet.[3]

 

 


Anmerkungen:

[1] Vgl. grundsätzlich Biographien des Buches, hg. von Ulrike Gleixner, Constanze Baum, Jörn Münkner und Hole Rößler, Göttingen 2017. [HAB-OPAC]

[2] Ulrich Peltzer: Bryant Park, Berlin 2004, S. 10 f., 23 f., 27 f.

[3] Bis auf einen sind alle Titel im Auktionskatalog zu Lakemachers Bibliothek zu finden. Bei dem Titel, der nicht aus Lakemachers 1737 aufgelöster Bibliothek stammt, handelt es sich um Yosef ben Goryon: [Historiae Judaicae libri 6 <hebr.>], Konstantinopel [1510] (HAB Wolfenbüttel: M: Le 52). Lakemacher schenkte ihn 1730 der Universitätsbibliothek Helmstedt.