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Resident Kafka

Eine Notiz im Anschluss an den Vortrag „Games im Deutschen Literaturarchiv Marbach – Wie und warum wir Computerspiele archivieren“ vom 09.03.2023

Der vielleicht bekannteste unter den Aphorismen von Frank Kafka lautet: „Ein Käfig ging einen Vogel suchen.“ Alle, die das Zeitungsfeuilleton lesen, können ihn vermutlich sofort zuordnen. Charles Simic, zum Beispiel, hatte für die Reihe “Kafkas Sätze” der Frankfurter Allgemeinen Zeitung liebevoll über eben diesen Satz reflektiert und wusste unter anderem zu berichten: „Eine aufmerksame Platzanweiserin in Montevideo bemerkte während der Vorführung des alten Hitchcock-Films „Die Vögel“ einen einzelnen Vogelkäfig, der in der ersten Reihe saß.“

Auch die zwölfjährige Natalia Korda kennt diesen Satz. Sie liest ihn auf der Bettkante im sonnendurchfluteten Schlafzimmer eines generischen suburbanen Holzhauses in Kanada, eine unheimliche Musik erklingt und ein nicht minder unheimliches Lächeln umspielt ihren Mundwinkel. Und sie ist eine Protagonistin der Storyline des Survival-Horror-Games Resident Evil: Revelations 2. Das wiederum möglicherweise nicht alle Feuilleton-Leser*innen so gut kennen dürften, wie ihren Kafka.

Man könnte nun diskutieren, ob Kafka derart kanonisiert ist, dass er domänenübergreifend intertextuelle Präsenz entfaltet. Schließlich wurde er auch schon von der Rapperin Sabrina Setlur, bekannt durch Zeilen wie „Wie an Silvester / knallt die Schwester / härter und fester / durch das Geläster“, eingelesen. Für die Kulturanalyse sind derartige Übernahmen generell zugleich ein spannendes Feld und eine extreme Herausforderung. Denn man muss zunächst überhaupt wissen, wo man nachzusehen hat. Zum Kafka-Zitat in Resident Evil sind es fast 40 Stunden Spielzeit und das glückliche Ende. Wobei man bei einem Spiel, das mit einer Episode „Penal Colony“ beginnt und mit „Methamorophis“ endet, durchaus darauf spekulieren kann. Dennoch muss man sich erst einmal dahin überleben.

Man kann dies jetzt, wie Dîlan C. Çakir und Alex Holz vom Projekt „Born-digitals“ des Forschungsverbunds Marbach Weimar Wolfenbüttel in ihrem Vortrag am 09.03.2023 verrieten, im Deutschen Literaturarchiv in Marbach (DLA) versuchen. Dort gibt es Gaming-PCs und die Möglichkeit sich auf Kafkas Spuren durch virtuelle Dystopien zu shooten und nebenbei genau über die Frage nachdenken, wie die Zürauer Aphorismen in die Hände einer introvertierten Spielfigur geraten sind.

Dahinter steckt noch nicht unbedingt die Erweiterung des Fokus des Archivs auf Computerspiele als Literatur. Aber da am DLA traditionell auch intermediale Bezüge zu den gesammelten Autor*innen dokumentiert und archivarisch gesammelt werden, scheint der Schritt in Richtung Games nur folgerichtig. Ein Anspruch des DLA ist schließlich. so die Erinnerung während des Vortrags, „Literatur in der gesamten medialen [Erscheinungs]form zu sammeln.“ Games werden zumindest aus dieser Perspektive als Teil des kulturellen Gedächtnis angesehen.

Als Born-digital-Materialien, die noch dazu oft nur mit Online-Verknüpfung funktionieren, machen sie es den Archiven allerdings nicht leicht, wie ebenfalls aus dem Vortrag zu erfahren war. Spiele wie Resident Evil sind aktuell nur über die hauseigene Anbindung an die Spieleplattform Steam erfahrbar – mit allen damit verbundenen Abhängigkeiten. Das, neben vielem anderen, unterscheidet sie von den Vorstufen gamifizierter Literatur, die seit den 1990er Jahren auf CD-ROM und später DVD in den Buchhandlungen vertrieben wurde. Bei dieser ist das technische Hauptproblem eher, ein Gerät vorzuhalten, auf denen sie noch gespielt werden können.

Organisatorisch sind Games Teil der Spezialsammlungen und müssen nachvollziehbar einige Hürden nehmen, um ins Programm des DLA zu passen. Zu diesen gehört ein besonderer Umgang mit Text und Sprache, das Kriterium der Narrativität und / oder ein Bezug zu konkreten Autor*innen und Werken. Resident Evil punktet vor allem in der dritten Kategorie. Die zweite, also die Narrativität, ist Gegenstand eines fortlaufenden Aushandlungsprozesses, denn in gewisser Weise folgt auch bereits ein Spiel wie Donkey Kong einer Plotline, deren narratives Erbe sich durchaus, wenn auch meist in anderer Komplexität in zahlreichen zeitgenössischen Computerspielen weiterlebt. Leider war das Zeitfenster in der Diskussion zu knapp bemessen, um diesen Aspekt und die Frage, wie man eine solche, sicher literarisch elaborierte Narrativität bestimmt, die sich beispielsweise in Spielen wie Mundaun zeigt, für das unter anderem Jeremias Gotthelfs Novelle „Die schwarze Spinne“ als Inspiration diente. Aber vielleicht ist diese Frage ein guter Impuls für einen Workshop im Digital Makerspace.

Andere Herausforderungen neben der Identifikation, dem Erwerb sowie der Archivierung von Games zeigen sich auch in der Erschließung. Dies betrifft einerseits die formale Eingliederung in Bestände und andererseits eine Tiefenerschließung, die für, wenn man so will, hermeneutisch interessierte Game Studies, Kulturwissenschaft und Literaturanalysen sinnvoll erscheint. In Marbach überlegt man, für diesen Zweck Zugänge zu bestimmten Zwischenständen eines Spiels zu entwickeln.

Ein anderer Weg wäre sicher, Playthroughs zu archivieren oder auch gezielt anzufertigen. Bei diesen würden Games linearisiert, was es ermöglicht, ähnlich wie bei einem Film bestimmte Stationen, Fortschritte oder Szenen anzusteuern und eventuell sogar zu annotieren. Hierzu entstand in der Veranstaltung eine kleine Grundsatzdiskussion, die auf der Frage aufsetzte, ob die Beforschung eines Spiels nur sinnvoll möglich ist, wenn die Forschenden es auch wirklich aktiv durchgespielt haben.

Die Implikationen dieses Verständnisses auch hinsichtlich des dafür notwendigen Zeitaufwands sind freilich erheblich, da viele Spiele eine erhebliche Variabilität im Verlauf entfalten und zudem auch noch unterschiedlich Schwierigkeitsmodi und teils auch Versionierungen zu beachten wären. Auch ist nicht gesagt, dass alle engagiert Forschenden auch gewiefte Spielende sind oder sich in bestimmten, bewusst auf die Bewältigung dynamischer Aufgaben ausgerichteten Spielsituationen überhaupt eine erkenntnisorientierte Beobachtungsleistung im Spielfluss erzielen lässt. Bisweilen kann gerade die Betrachtung aus der Distanz aufschlussreicher sein als das schwertschwingende Durchschlagen.

Ein Aspekt für die unmittelbare Spielerfahrung wäre dagegen die Wucht, wie sie sich beispielsweise bei den ethischen Entscheidungsschwellen von The Last of Us darstellt. Während man bei der Verfilmung mitfiebert, mitleidet und von außen bewertet, wird man im Spiel in die Figur und ihre Entscheidungsdilemmata versetzt und muss diese Entscheidungen, auch wenn das Ergebnis vorherbestimmt ist, selbst treffen.

Eine solche Erfahrungsnähe und die für ein analytisches Verständnis notwendige Immersion bleiben aus Forschungssicht Faktoren, die einerseits fachkulturell zu bestimmen wären und andererseits sicher auch von der jeweiligen Forschungsfrage abhängig sind. Dabei hilft es sicher, nicht nur abstrakt auf die Gameskultur zu schauen, sondern hin und wieder selbst zum Controller zu greifen, um den Umfang der jeweiligen Spiele zu durchmessen und dabei das narrative Gewebe zu verstehen. Aus dieser Praxis lässt sich dann feststellen, wie vielschichtig Spielkomplexe wie zum Beispiel The Last of Us, über das auch die Kulturkritik außerhalb der Gamesszene zu Recht ausführlich schreibt, eigentlich sind.

Dazu addieren sich die mittlerweile unüberschaubaren Let’s Plays, Reaction Videos und Video Essays aus allen denkbaren Perspektiven. Gerade zu The Last of Us existiert zudem über ausführliche und mitunter auch sehr überraschende wissenschaftliche Sekundärliteratur.

So wie sich manche Literaturwissenschaftler*innen ein forschendes Leben beispielsweise lang im Werk Thomas Manns oder eben Franz Kafkas aufhielten, ist nun denkbar, dass sich Game-Forschende aus Final Fantasy oder Elden Ring spezialisieren, wobei die Innovationszyklen, Verwertungslogiken und Entwicklungsbreiten von Games einer solchen Hochspezialisierung vermutlich entgegenständen.

Dazu kommt eine weitere Komponente, die in der Diskussion zum Vortrag leider ebenfalls nur angerissen werden konnte. Die Gameskultur brachte und bringt ein beeindruckendes Spezialwissen mit komplexen Eigendokumentationen, Communities of Gaming und Spezialdiskursen hervor, was nahelegt, von eigenen, extrawissenschaftlichen Wissenskulturen zu sprechen. Allein das Resident-Evil-Wiki bietet derzeit mehr als 27.000 Einträge analytischen Begleittext zum Spiel einschließlich einer List of Franz Kafka references.

Entsprechend herausfordernd scheint das Feld. Wie sich die Komplexität und vor allem die Entwicklungsgeschwindigkeit der Gameskultur mit den Anforderungen an Gründlichkeit und Kanonisierung der Wissenschaft in Passung bringen lässt, ist bisher eine weitgehend offene Frage.

Im Digital Makerspace werden wir diese sicher nicht beantworten. Aber wir können und wollen auch Games als genuine Ausdrucksformen digitaler Kultur und digitaler Narrativität selbstverständlich multiperspektivisch berücksichtigen. Ein naheliegender Ansatz wäre das Aufgreifen von Ansätzen der Gamifizierung bei der Auseinandersetzung mit Kulturerbeobjekten. Und selbstverständlich ermöglicht die Intertextualität in Games auch eine Verzweigung über Grenzen von Kulturen hinweg. Wer weiß, vielleicht tauchen bis dato eher Kafka-ferne Gamer*innen nach dem Erlebnis Resident Evil auch in das Erlebnis Kafka ein.

Zur Vertiefung des Themas Games und ihre Literatizität sowie Sammlung und Archivierung sei auf jeden Fall an dieser Stelle auf die entsprechende Tagung am DLA Marbach im Juni dieses Jahres verwiesen.

Für den Digital Makerspace nehmen wir mit, dass wir Games buchstäblich auf dem Schirm haben sollten. Und von nun an sehr aufmerksam auf dem Steam Deck nach intertextuellen Bezügen zum Kosmos Weimar Ausschau halten werden. Und vielleicht auch mal einen Blick in die Deutsche Nationalbibliothek in Leipzig werfen, bei der man immer schon einmal Goethes Faust in Virtual Reality erleben kann. 

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