Eine expressionistische Zeitgenossenschaft in Büchern: Kurt Pinthus und Gottfried Benn

Die Autor:innenbibliotheken von Kurt Pinthus und Gottfried Benn befinden sich heute in unmittelbarer Nachbarschaft; im Magazin 5 unterhalb des Archivgebäudes im DLA Marbach. In ihren Regalen: Exemplare, die von einem Bestandsbilder zum anderen verweisen, von der Büchersammlung Pinthus‘ in die überlieferten Teile der Benn'schen Arbeitsbibliothek und umgekehrt. Die räumliche Nähe wird dabei durch eine zeitliche Dimension ergänzt, denn die Bücher erzählen die Geschichte einer expressionistischen Zeitgenossenschaft in ausgewählten Bänden.

Briefe oder anderweitige Lebenszeugnisse, die die Konstellation Benn-Pinthus auf den Boden einer gesicherten Quellenlage stellen, haben sich leider nicht erhalten. Eine Ausnahme stellt in diesem Zusammenhang das abgebildete Widmungsexemplar des Lyrikbandes Schutt (1924) dar, dass Benn seinem Generationsgenossen (beide Jg. 1886) im April 1924 zueignete. Die handschriftliche Widmung auf dem – für diese Textsorte ungewöhnlichem – Deckblatt ist schlicht. Die knappe Grußformel mit Vor- und Zuname des Empfängers lässt weniger auf eine enge persönliche Beziehung schließen als auf eine Verbindung für und durch die (ehemalige) gemeinsame Sache: 1916 erschien Benns Novellensammlung Gehirne an einem der Publikationsorte für die junge avantgardistische Literatur schlechthin; der Reihe Der jüngste Tag im Verlag von Kurt Wolff. Hier fungierte seit 1912 auch Pinthus als literarischer Berater. Beide publizierten zudem in Franz Werfels Zeitschrift Die Aktion und bespielten somit diejenigen Zirkel und expressionistischen in-peer-Konstellationen, die sich in der von Pinthus zusammengestellten Menschheitsdämmerung (1919/20) verdichten sollten.

In der Anthologie selbst ist Benn mit einigen seiner bekanntesten frühen Gedichte (zum Beispiel Kleine Aster, Gesänge, D-Zug) vertreten. Ein besonderes Unikat der Menschheitsdämmerung hat sich zudem in seiner eigener Bibliothek erhalten, gewidmet seiner ersten Frau Edith, zu Weihnachten 1919. Der Zueignung an sie vorangestellt finden wir die Eingangsverse von Werfels Trinklied: »Wir sind wie Trinker,/ Gelassen über unseren Mord gebeugt «. Dem Zitat kommt als Teil der Widmung eine besondere Bedeutung zu: es verbindet die Material- mit der Textebene, führt vom handschriftlichen Provenienzmerkmal direkt in das Innere der Sammlung, in der Werfels Gedicht auch abgedruckt ist. Und die Zeilen werden zum Indiz dafür, wie empathisch Benn dem Expressionismus verbunden blieb. Noch knapp zwanzig Jahre später, 1940, findet sich das gleiche Zitat in einem Brief an seinen Vertrauten F. W. Oelze wieder. Zu diesem Zeitpunkt war Benn schon von den Nationalsozialisten ›gecancelt‹ und sein Plan einer ›totalen Kunst‹ im totalitären Staat gescheitert. Genau wie Pinthus geriet auch er in den Ruch einer ›entarteten Kunst‹ und wie Pinthus war auch Benn auf die Hilfe des ehemaligen expressionistischen Weggefährten Hans Johst angewiesen. Doch während Benns Innere Emigration ihm bis zum Kriegsende eine sichere äußere Existenz in der Wehrmacht erlaubte, flüchtete Pinthus bereits 1938 ins echte amerikanische Exil.

Im literarischen Nachkrieg wirkten beide dann als Zeit- und Kronzeugen ihrer einstigen Strömung an der Rehabilitation und öffentlichen Bergung des Expressionismus mit. Pinthus mit der Neuauflage der Menschheitsdämmerung (1959) und Benn mit der Anthologie Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts (1955). Ein Exemplar davon hat sich – allerdings ohne Widmung – ebenfalls in Pinthus Bibliothek erhalten, deren Bücher auch 100 Jahre später noch Zeugnis über die Konstellationen der historischen Avantgarde zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts ablegen.

 

Sarah Gaber

Gottfried Benn: Schutt. Berlin-Wilmersdorf 1924, DLA Marbach (BKP4), Foto: Anja Bleeser
Gottfried Benn: Schutt. Berlin-Wilmersdorf 1924, DLA Marbach (BKP4), Foto: Anja Bleeser