Europäische Büchergrüße: Claire und Yvan Goll und Kurt Pinthus

»Mit europäischen Grüßen«, sandte Yvan Goll 1928 ein Exemplar seines neu erschienen Romans Der Mitropäer an Kurt Pinthus. Der freundliche Büchergruß ist jedoch nicht als kosmopolitische Geste misszuverstehen, als Ausdruck der Hoffnung Golls, dass in einem geistigen Ideal europäischer Kultur und Politik nationalistische Ressentiments bald überwunden sein werden. Im Gegenteil, Golls Roman ist eine bissige Satire auf den Geisteszustands Europas der Zwischenkriegszeit. Ein Jahr zuvor erschienen, und auch als Widmungsexemplar in Pinthus‘ Bibliothek erhalten, ist Golls Roman Die Eurokokke, in dem ein amerikanischer Chemieprofessor die europäische Krankheit diagnostiziert:

Sie wissen nicht, was die Eurokokke ist? Es ist der Bazillus, der die europäische Kultur zerfrißt. […] Sicher haben auch Sie keine Leber, kein Herz, keine Seele mehr. Das heißt auf Ihr Menschentum übertragen: Sie haben keinen Ehrgeiz, keinen Glauben und keine Liebe mehr. […] Nicht wahr, Sie haben auch kein Pflichtgefühl mehr, keine Ehrfurcht vor den Eltern und Gott, keinen Respekt, keine Vernunft, keine Zucht und kein Ziel? Sie haben die Krankheit der Leere, auch Langeweile genannt, Sie haben die Eurokokke.[1]

1891 im französisch-deutschen Grenzgebiet geboren und aufgewachsen, bewegte Goll sich sein Leben lang zwischen sprachlichen und kulturellen Identitäten. Er studierte in Straßburg, Freiburg und München; 1912 wurde er promoviert. Vor dem Wehrdienst floh der überzeugte Pazifist und emigrierte 1914 in die Schweiz; hier lernte er die ebenfalls emigrierte Pazifistin, Schriftstellerin und Journalistin Klara Studer (geb. Aischmann) kennen. Klara war die Ehefrau des Schweizer Verlegers Heinrich Studer. Das Paar hatte zuvor in Leipzig gelebt, wo Klara studierte und auch enge Kontakte zur dortigen Expressionistenszene um Franz Werfel, Walter Hasenclever und Kurt Pinthus gepflegt hatte. 1917 wurde die Ehe zwischen Heinrich und Klara Studer geschieden. Zwei Jahre später zog sie mit Yvan Goll nach Paris, wo sie heirateten. 1939 flohen Yvan und seine (jetzt als Claire Goll bekannte) Frau ins Exil nach New York. Dort bezogen sie eine Wohnung in Brooklyn und trafen alte Bekannte wieder: Franz Werfel, Marc Chagall, vermutlich (soviel lässt sich aus dem unten zitierten Brief schließen) auch Kurt Pinthus. Sie lernten Englisch und begannen wieder zu publizieren.

Claire und Yvan Goll, New York, 1945/47
Claire und Yvan Goll, New York, 1945/47

Claire Goll mit dem Archivar und stellvertretenden Direktor des Schiller-Nationalmuseums Walter Migge, Marbach, 1973
Claire Goll mit dem Archivar und stellvertretenden Direktor des Schiller-Nationalmuseums Walter Migge, Marbach, 1973

Zwei Jahre nach Kriegsende kehrten sie nach Frankreich zurück, wo Yvan 1950 erst achtundfünfzigjährig verstarb. Die Widmungen Claire Golls aus den 1950er Jahren, die sich in Pinthus‘ Bibliothek befinden, zeugen von den Bemühungen der Witwe, das Werk ihres verstorbenen Mannes zu würdigen. In den 1950er Jahren erschienen posthum veröffentliche Gedichtanthologien Yvan Golls, beispielsweise die Malaiischen Liebeslieder (1952), die er zwischen 1932 und 1934 auf Deutsch geschrieben und dann selbst ins Französische übertragen hatte, und die zuerst 1934 als Chansons Malaises in Paris veröffentlicht worden waren. Im November 1952 kam es schließlich zu einem Wiedersehen zwischen Claire Goll und Kurt Pinthus in New York und (vermutlich) auch zur Übergabe der Malaiischen Liebeslieder: »Liebes Kürtchen«, schreibt Claire Goll in einem Brief an Pinthus,

Sie haben mir gestern eine der wenigen Freuden meines Lebens bereitet: Das Wiedersehen - nach 13 Jahren […]. Ich wollte ihnen dafür danken, wie ich Ihnen und Else überhaupt innigst verpflichtet bin für die vielen Beweise der Freundschaft, die Sie mir geben. […] Gestern sah ich, dass Ihnen viele wichtige Bücher aus Yvan’s Werk fehlen. Ich möchte diese Lücken gerne ergänzen. Können Sie nicht eine Stunde am Sonnabend oder Sonntag finden, um sich die fehlenden Bände zu holen?[2]

Die Nachlässe von Kurt Pinthus und von Claire und Yvan Goll befinden sich heute in unmittelbarer Nähe zueinander im Deutschen Literaturarchiv in Marbach. Bereits ab den 1960er Jahren pflegte Claire Goll enge Kontakte nach Marbach und verhandelte über den Verbleib des gemeinsamen Nachlasses. 1969 kam schließlich entsprechender Vertrag zustande. 1977 verstarb Claire Goll und wurde neben ihrem Mann in Paris beigesetzt.[3]

 

Stefanie Hundehege

 

[1] Yvan Goll: Die Eurokokke, Berlin 1988, S.74 u. 82.

[2] Deutsches Literaturarchiv, A: Pinthus, Kurt, Claire Goll an Kurt Pinthus, 13. November 1952.

[3] Susanne Nadolny: Claire Goll. Ich lebe nicht, ich liebe. Eine biografische und literarische Collage mit Texten, Bildern und Fotografien von Claire Goll, Yvan Goll, Rainer Maria Rilke, Paula Ludwig, Franz Werfel, Paul Celan, Kurt Wolff, Kurt Pinthus, Hans Arp, Marc Chagall, Alexej Jawlensky u. a. Berlin: Ed. Ebersbach, 2002, S. 136-137.