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Sammler*innen, Sammlung, Netz
Eine Tagung zu den Netzimplikationen von Sammlungspraxis und Sammlungsforschung
Abbildung: Netzwerkvisualisierung der Privatbibliothek von Benedikt Bahnsen, die die Komplexität der Zusammenhänge von Sammelnden und Objekten verdeutlicht.
Eine Sammlung trägt Objekte zusammen, verknüpft sie und spiegelt strukturell und funktional die Grundeigenschaft des Netzes. Mit Blick auf die Sammlungspraxis sind allenthalben Vernetzungsgeschehen zu beobachten. Gegenwärtig werden Objekte mit Hilfe moderner Technologien in potentiell unendlichen Geflechten miteinander verbunden – aber auch wieder entbunden. Gilt das auch für (ganze) Sammlungen? Wir wollen die Akteur*innen des Sammelns, Sammlungen als solche und die Sammlungsforschung mit Bezug auf das Netzmodell und damit vor dem Hintergrund von Vernetzungspraktiken, Datennetzen und netzwerkanalytischen Technologien positionieren. Anhand von zeitgenössischen und historischen Fallstudien sind Sammlungen und ihre Akteur*innen in vernetzten sowie als vernetzte Konstellationen aufzuspüren und nachzuzeichnen.
Netz, Sammeln, Sammlung
Die historische Semantik von Netz verweist auf das Geflecht mit Maschen und Knoten. Sein assoziativer Skopos, etwas fangen und zusammensammeln, ist indessen expandiert. Das elektronische Computernetz kann nicht auf Knoten und Leitungen verzichten, auch trägt es Inhalte zusammen, aber es hat die dingliche Robustheit des Ur-Netzes fast vollständig absorbiert. Gerade weil das Netz Ereignissen und Zuständen, bei denen etwas zusammenkommt und miteinander verknüpft wird, begriffliche Konkretheit verleiht, hat es als Metapher Karriere gemacht. So bietet es sich als Modell für Personennetze, Ideenaustausch, crowd networking, verklammerte und verzweigte Objektprovenienzen, Sammelstrategien und Sammlungsgenesen an.
Eindringlicher als beim Netz stellt sich für das Sammeln die Frage, wie sich die versammelten Objekte zueinander verhalten. Denn eine Sammlung ist immer intentional, ihr Sinn ist vom Kalkül der Objektbeziehungen bestimmt. Sammlungen sind nicht statisch, sie unterliegen den Zeitläuften, dem Sammlerwillen, unvorhergesehenen Verstrickungen, sie sind niemals abgeschlossen, immer auf Wachstum und Wandel ausgerichtet. Wenn Sammlungen Beziehungen der eigenen Objekte untereinander wie zu Objekten in anderen Sammlungen stiften, werden die Objekte aus ihren ursprünglichen Kontexten herausgelöst und flechten andere Beziehungen: Vernetzung schließt also ‚Ent-Netzung‘ mit ein, Sammeln meint stets auch die Auflösung von Sammlungen.
Beobachtungen, Probleme, Fragen
Vernetzung und ‚Ent-Netzung‘, Verflechtung und Entflechtung können im Miteinander wie in der Beziehungsauflösung der Objekte, in ihren Provenienzen, Biographien und ‚Wanderungen‘ fassbar werden. Was wären Sammlungen als Netze, d.h. welche Netzstrukturen bilden Objektmengen, die als Sammlungen definiert werden? Wie stehen Sammlungen im Netz: der Zeit und der vielfältigen Bedingungen ihrer Möglichkeit und Genese? Wie können die Dynamiken der Sammlung, die zu immer neuen, auch bedeutungsstiftenden Konstellationen von Objekten und Akteur*innen führen, angemessen (und nicht nur in digitalen Präsentationsformen) dargestellt werden? Wie lassen sich diese unterschiedlichen Netzstrukturen evident machen? In welchem Maß ist also die Analogie von Netz und Sammlung heuristisch produktiv?
Wir beobachten, dass Sammler*innen weder autark, noch zeit- oder kontextlos sammeln. Sie verfolgen ein Ziel, ihre Sammlungen enthalten das Versprechen, Objekte in eine mehr als nur räumliche Nähe zueinander zu bringen. Sammler*innen akkumulieren, appropriieren, assimilieren und selektieren Objekte, um sie in einem Akt der Synthese zu einer Sammlung zu fügen. In welchen Netzwerken agieren Sammler*innen, mit welchen Vernetzungspraktiken operieren sie?
Sammler*innen stellen mit ihren Sammlungen Ordnungen her, indem sie die Objekte bewusst oder unbewusst miteinander in Beziehung setzen. Mit Anknüpfungen und Verknüpfungen wird ein Netz um die Objekte gelegt, das mit den kognitiven und semantischen Netzen des Sammlers/der Sammlerin und der Sammlungsbenutzer korreliert und interagiert. Die Vernetzung der Sammlungsobjekte kann Assoziationsketten auslösen, die neue Verknüpfungen und Erkenntnisse erzeugen. Inwiefern macht die Vernetzung die Ordnung der Sammlung aus, inwieweit machen Vernetzung und Ordnung einer Sammlung bestimmte Interaktionen möglich, andere unmöglich?
Wir beobachten, dass ‚Sammlungen im Fluss‘ sind. Das nicht erst, seit die digitalen Technologien alles mit allem zu verknüpfen versprechen. Grenzen von Sammlungen lösen sich immer mehr auf, auch Sammlungsdefinitionen. So ist es bspw. nicht mehr ungewöhnlich, in einem Bibliothekskatalog mit Millionen von Objekten den bislang als feste Abteilung mit stabiler Ordnung gedachten Bestand der lokalen Alten Drucke nicht mehr zu finden, weil sie Teil anderer Teilsammlungen geworden oder in neuen virtuellen Sammlungszusammenhängen aufgegangen sind. Die Raubkunstdebatte verdeutlicht, wie Besitzerwechsel zu forcierten Objektwanderungen führen, wie Sammlungsstrukturen und Sammlungsnetzwerke immer auch Machtrelationen abbilden. Objekte treten kontinuierlich in neue Netzwerke ein, die Sammlungen verändern sich fortlaufend. Wie verändert sich der Status materiell-konkreter Objekte im Prozess ihrer Transformation in Daten-Objekte? Was bedeutet die Digitalisierung für die Sammlungspraxis und die Sammlungsdefinition? Geschieht hierbei mehr als eine neue Indexierung der Objekte in einem Netz von Verweisen, Bezügen und Anspielungen? Verlieren Sammlungen und Objekte im Zeitalter der Digitalität in stärkerem Maß als früher stabile und persistente Koordinaten? Wenn ja, erfordert dieser Umstand ein neues Verständnis von Sammlungen? Wie plausibel ist ein hergebrachter Sammlungsbegriff, wenn es um Fragen der Bewertung expansiver Mengen von digitalen Forschungsdaten geht? Wie können Daten aus sozialen Netzwerken, Twitter, Facebook oder Instagram, Emails und andere digital born-Objekte sinnvoll und dauerhaft gesammelt werden, um sie als Quellen unserer Gegenwart für die Zukunft zu erhalten? Welche Konsequenzen hat es, wenn die größten Datensammlungen der Welt sich nicht frei zugänglich in der Hand öffentlicher Archive und Bibliotheken, sondern privater Großunternehmen mit rein wirtschaftlichen Interessen oder von Geheimdiensten ohne demokratische Kontrolle befinden? Wie ist die Beziehung zwischen materiellen Sammlungsobjekten und ihrer digitalen Erfassung in Form von Metadaten oder digitaler Reproduktion?
Schließlich stellt sich die Frage, welche Rolle die DH in der Sammlungsforschung spielt, wenn es um datenmäßige Repräsentationen statt um konkrete Objekte geht, wenn also der Sammlungsforschung die herkömmlichen analogen Objekte abhandenkommen? Können die DH bessere Antworten auf alte Fragen geben, sprich: historische Objektvernetzungen/Sammlungsnetze nachzeichnen, die ja ebenfalls schon durch Immaterialität und multiple Zugehörigkeiten gekennzeichnet waren? Oder warten die DH, bis die Digitalität ihre eigenen Objekte hervorgebracht hat, Stichwort: Digitale Kunst?
Fallstudien und Tagungsablauf
Die aus zwei Teilen bestehende Tagung ist als kollaborativer und experimenteller Erkenntnisprozess angelegt. Vorgestellt werden Fallstudien, die eine oder mehrere von folgenden drei Perspektiven einnehmen: 1.) auf die Akteur*innen, also Sammler*innen, ihre Netzwerke und Vernetzungseinsätze, 2.) auf Sammlung als und im Netz, also auf Vernetzungen und Ent-Netzungen von Sammlungen und zudem ihre Existenz im W3-Datennetz und 3.) auf das Netzwerk als Analyseinstrument für die Sammlungsforschung. Einen zeitlichen Schwerpunkt gibt es nicht, die Konfrontation von historischen und modernen, nicht zuletzt digitalen Beispielen aus der Sammlungspraxis ist erwünscht.
Die Tagung hat das Ziel, die eigene Wissensarbeit als Vernetzungspraxis performativ umzusetzen und zu reflektieren. Das den Sammlungsbeispielen der Fallstudien intrinsische und über sie hinausreichende Netzpotential ist zu identifizieren und nachzuzeichnen. Fluchtlinie aller Beiträge und der gemeinsamen Diskussion ist die Erörterung der Brauchbarkeit des Netzes als Beschreibungsmodell für die Funktionalität und Dynamik von Sammlungen. Im Anschluss sollen die präsentierten Daten, die Akteur*innen und Sammlungen aus den Fallstudien mit Unterstützung der Digital Humanities workshopartig in Kleingruppen untereinander und mit externen Wissenskontexten in Beziehung gesetzt werden, um das Erkenntnispotential des Netzes als heuristische Metapher und methodisches Instrument für die Sammlungsforschung tiefergehend auszuloten.
Die Tagung ist ein Gemeinschaftsprojekt im Forschungsverbund Marbach Weimar Wolfenbüttel (MWW), Veranstalter und Austragungsort ist die Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel. Angesprochen sind Historiker*innen, Sammlungsforscher*innen, Literatur-, Bibliotheks- und Kulturwissenschaftler*innen und Technikphilosoph*innen mit DH-Interesse und -Kompetenzen. Die Bereitschaft zum Dialog wird vorausgesetzt. Die Publikation eines Tagungsbandes in der Reihe »Kulturen des Sammelns: Akteure – Objekte – Medien« (hg. von der Herzog August Bibliothek) ist geplant.
Informationen und Kontakt
Organisation: Dr. Joëlle Weis, Dr. Jörn Münkner, Maximilian Görmar
Kontakt: muenkner@hab.de
Ort: Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel
Datum: 30.03.–01.04.2022
Informationen zum Forschungsverbund MWW: www.mww-forschung.de
Die Tagung wird finanziell gefördert durch die Dr. phil. Fritz Wiedemann-Stiftung.
Die Tagung findet hybrid statt. Interessierte können sich ab Mittwoch, 30.03., 16 Uhr über den Teilnahmelink einwählen. Die Tagung beginnt 16:15 Uhr (s. Programm).