Walter Benjamin: Einbahnstraße

»Karl Wolfskehl, den der Pfeil nach Berlin bittet«. Mit diesem Hinweis auf dem Umschlag seiner Einbahnstraße lud Walter Benjamin den sammelnden Mitstreiter Wolfskehl zu sich ein. Die weltanschaulichen Unstimmigkeiten zwischen dem George-Nahen und dem George-Kritischen sind nicht zu übersehen – und doch verband sie eine Menge. Obwohl aus anderen Ecken des Landes, entstammten sie beide bürgerlichen deutsch-jüdischer Familien. Sie beschäftigten sich mit der jüdischen Mystik sowie der deutschen Romantik und teilten eine Liebe zu Paris. Am wichtigsten war aber die jeweilige Beziehung zur Überlieferung.
Eine der wenigen öffentlichen Spuren ihrer Freundschaft ist ein von Benjamin verfasster, 1929 in der Frankfurter Zeitung veröffentlichter Text, der Karl Wolfskehl zum sechzigsten Geburtstag gewidmet ist. In ihm liest der begeisterte Wolfskehl, »eine wahrhaft hermetische, geleitende Stimme«, aus Das Jahrhundert Goethes vor. »Und als ich sie nun von ihm zum ersten Mal hörte«, erklärt Benjamin, »rückten in meinem Innern die paar Gedicht, die da seit Jahren oder Jahrzehnten hausten, um einen letzten spätesten Fremdling unter sich aufzunehmen.« (Benjamin 1929, S. 368).

In dem zusammen mit Stefan George herausgegebenen Band gelang es Wolfskehl, in Vergessenheit geratene Werke wiederzubeleben. Auch kanonisierte Schriftsteller setzte er in neue Zusammenhänge, um sie in einem neuen Licht zu zeigen. Einem solchen Unternehmen ging Benjamin selbst nach, als er eine Reihe humanistischer Briefe unter dem Namen Deutsche Menschen zusammenstellte. In seinem Wolfskehl-Aufsatz beschreibt Benjamin die Überlieferung als eine Art ästhetisches Erlebnis. Im Zusammenhang mit der Kabbala wusste er sie als eine Art Rettung durch Neugeburt zu verstehen. So habe Wolfskehls Stimme ihn »in die unwegsamen höhen geführt, wo um 1900 im Schatten einiger ragender Häupter, Hölderlins, Jean Pauls, Bachofens, Nietzsches, die deutsche Dichtung erneuert worden« (Benjamin 1929, S. 368).

Wolfskehl soll auch dem Vater seines Zeitgenossen, den Antiquar Emil Benjamin, einmal begegnet sein. Dieser Austausch verweist auf ein weiteres gemeinsames Interesse, nämlich die Privatbibliothek. Beide sammelten, um die Bewahrung der Bücher vor dem Verlust in ungeeignete Händen zu sichern, aber auch, um deren Fortleben in neue Sinnzusammenhänge zu ermöglichen. Denn so wie es in Walter Benjamins Ich packe meine Bibliothek aus steht, ist »für den wahren Sammler […] die Erwerbung eines alten Buches dessen Wiedergeburt« (Benjamin 1972, S. 389) Die eigenen Exemplare waren zudem biographische Spuren in der Dingwelt. Denn hatte man sie zwischen den Fingern, so fließ einem eine Flut an Erinnerungen, die auf Versteigerungen und Glücksfunde zurückwies.

Für Benjamin – wie für Wolfskehl – gehörte allerdings auch die Zerstörung und Zerstreuung zum Überlieferungsprozess. Er plädierte für einen historischen Materialismus, dessen Ziel es war »in einer von Spannungen gesättigten Konstellation […] eine bestimmte Epoche aus dem homogenen Verlauf der Geschichte herauszusprengen« (Benjamin 1965, S. 92). Als Juden erahnten sowohl Benjamin als auch Wolfskehl die kommende Katastrophe. Doch während Benjamin die Rettung des Vergangenen in der politischen Revolution sah, waren Wolfskehl und seine Bibliothek eher, wie sein Bekannter ihm merkwürdig in seinem Aufsatz beschrieb, »ein weltgeschichtliches Refugium«.

Text: Alexander Beard

Walter Benjamin: Einbahnstraße. Berlin: Rowohlt 1928.

Aufbewahrungsort: Jerusalem – Schocken Institute for Jewish Research; Bibliothek K.W., Nr. 2251

Katalogeintrag im DLA-OPAC

Foto: Yigal Pardo