Was ist Weltliteratur? Das Wort und das Konzept spielen eine große Rolle in Goethes Alterswerk, und im Zeichen der Globalisierung und der kulturellen Konflikte der Gegenwart erlebt das Thema eine erstaunliche Renaissance. Aber welche Netzwerke, welche materiellen Grundlagen standen eigentlich hinter Goethes Ideen? Wie haben Autoren sich seit den 1820er Jahren ausgetauscht, welche Bücher haben sie sich zugeschickt? Und wie kann man Weltliteratur mit den Mitteln der Digital Humanities analysieren? Diesen Fragen ging die Tagung Literature in the World nach, die das St John’s College der University of Oxford und das MWW-Projekt Goethe digital im November 2019 veranstalteten - mit freundlicher Unterstützung von MWW, der English Goethe Society und des St John’s College selbst.
Bild 1: Das Canterbury Quad im St John‘s College, University of Oxford
Das St John‘s College gehört zu den ältesten der britischen Universität. 1437 gegründet, hat es eine wechselvolle Geschichte hinter sich. In den prachtvollen Räumen seines Canterbury Quad, eines Flügels aus dem 17. Jahrhundert, fand nun eine internationale Tagung zur materiellen Dimension von Goethes Weltliteratur-Begriff statt. Barry Murnane, Professor am St John‘s College, und Stefan Höppner, Wissenschaftler im Weimarer MWW-Projekt Goethe digital, haben sie gemeinsam organisiert. Ihnen fiel auf, dass bei Beschreibungen von Goethes Weltliteratur-Konzept oft nur der intellektuelle Austausch zwischen Autoren eine Rolle spielt – nicht aber die tatsächliche Zirkulation von Büchern, Zeitschriften und Briefen. Dabei ist dieser internationale ‚Papierverkehr‘ die materielle Grundlage der geistigen Diskussionen. Ihn nachzuvollziehen und mit digitalen Mitteln darzustellen und zu analysieren – diese Aufgabe wurde bis jetzt kaum wahrgenommen. Aber auch die Vorgeschichte und das Nachleben von Goethes Weltliteratur-Begriff spielten bei der Tagung eine Rolle.
Bild 2: Barry Murnane moderiert
Bild 3: Graham Jefcoate stellt den Kulturvermittler John Henry Bohte vor
Nach einer Einleitung von Barry Murnane rekonstruierte Tim Sommer (Heidelberg) die Patronage-Verhältnisse zwischen Goethe und dem schottischen Autor Thomas Carlyle einerseits sowie zwischen Carlyle und dem US-Philosophen Ralph Waldo Emerson andererseits. Neben Buchsendungen sprach Sommer vor allem über die Strategien, mit denen die etablierten Autoren die unbekannten ‚Ausländer‘ auf ihrem heimischen Buchmarkt durchsetzten. Der renommierte Buchhistoriker Graham Jefcoate, langjähriger Leiter der Universitätsbibliothek in Nimwegen, stellte seine Forschungen zu John Henry Bohte vor, einer Schlüsselfigur im deutsch-englischen Buchhandel. Bohte war einer der wenigen britischen Händler, die ab 1814 regelmäßig auf der Leipziger Buchmesse präsent waren. Zum einen versorgte er deutsche Käufer mit der neuesten britischen Literatur, unter anderem auch Goethe. Zum anderen verlegte er die berühmten Faust-Illustrationen von Moritz Retzsch und half, Goethes Stück in Großbritannien populär zu machen. Mathelinda Nabugodi (Cambridge) stellte Percy Shelleys dilettantische und bis heute ungedruckte Faust-Übersetzung vor, die dennoch das Goethebild der englischen Romantiker beeinflusste. Elisabeth Herrmann (Warwick) rief noch einmal die Vorgeschichte von Goethes Äußerungen zur Weltliteratur auf. Anders als vielfach angenommen, wurde der Begriff von Christoph Martin Wieland in Umlauf gebracht, doch erst Goethe sorgte für eine internationale Resonanz, die bis heute anhält. Im zweiten Teil beschäftigte sich Hermann mit dem Nachleben des Begriffs in Skandinavien, besonders in den Schriften des dänischen Literaturkritikers Georg Brandes. Den Abschluss des ersten Tages bildete der Vortrag der Marbacher MWW-Mitarbeiterin Caroline Jessen, die über die Rezeption von Goethes Ideen zur Weltliteratur unter deutschsprachigen Exilanten im britischen Mandatsgebiet Palästina sprach.
Bild 4: Berenike Herrmann analysiert Kafkas Rezeption internationaler Literatur
Mads Rosendahl Thomsen von der dänischen Universität Århus gilt als einer der weltweit führenden Experten zur Weltliteratur. Er sprach zum Auftakt des zweiten Tages über die Spannung zwischen Goethes Auffassung von Weltliteratur als Austausch zeitgenössischer Autoren und der gleichzeitigen Idealisierung der griechischen Antike als Vorbild für alle. Danach ging Mohammed-Salah Omri, Professor für arabische Literatur am St John’s College, der Resonanz von Goethes Diwan in Büchern und Zeitschriften des arabischen Raums nach. Stefan Höppner, der im Weimarer MWW-Projekt Goethe digital tätig ist, stellte eine Reihe von Visualisierungen vor, die seine Kollegin Ulrike Trenkmann und er auf der Basis von Daten zu Bucheinsendungen an Goethe erarbeitet hatten. Dahinter stand die Frage, ob Goethes Beschreibungen von Weltliteratur als eines internationalen „geistigen Handelsverkehrs“ zwischen Autoren mit Goethes tatsächlichen intellektuellen Netzwerken zusammenpassten. Das Ergebnis: Tatsächlich erhielt Goethe die meisten Werke der ausländischen Literatur aus dem Inland, wobei ihre Übersetzer und Verleger zahlenmäßig eine größere Rolle spielten als die eigentlichen Autoren. Dies aber passt mit anderen Äußerungen Goethes zusammen, der dort betont, wie wichtig Übersetzungen und Rezensionen in Zeitschriften für die Durchsetzung der Weltliteratur sind. Als letztes stellte Berenike Herrmann vom Digital Humanities Lab der Universität Basel ihre Analysen zur sprachlichen Rezeption von Texten der Weltliteratur in den Schriften von Franz Kafka vor. Dabei stellte sie eine große sprachliche Nähe vor allem zu Goethe und Gustave Flaubert fest – erstaunlich, da Kafka immer wieder kritisch auf Goethe blickte.
Bild 5: Oxforder Publikum
Eher klein angelegt, war das Symposium an beiden Tagen gut besucht – von Oxforder Professorinnen und Professoren ebenso wie von interessierten Studierenden, die teils zu verwandten Themen forschen. MWW hat also eine gute Resonanz in Oxford gefunden. Eine Publikation ausgewählter Beiträge ist für 2021 geplant.
Fotos: Stefan Höppner