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Kulturerbepraxis für die Zukunft.

Eine Notiz zum Verhältnis zwischen "Heritage Professionals" und (zukünftigen) Nutzenden

Eine der faszinierendsten Eigenschaften von Hashtag-basiertem Social Media ist die Entfaltung des Phänomens der Serendipität. Dies, beziehungsweise das gängigere Serendipity, bezeichnet grob gesagt das inspirierende Finden des Ungesuchten. Eine verschlungene Suche, die beim Schlagwort “Open Access” begann, führte mich heute zu einem Open-Access-Sammelband aus dem Jahr 2020 mit Studien und Fallbeispielen zur, wenn man so will, Kulturerbeethik mit dem Titel “Critical Perspectives on Cultural Memory and Heritage Construction” (Hrsg. von Veysel Apaydin. London: UCL Press, 2020.) 

Der Band problematisiert seine Fragen vor allem in Bezug auf realräumliche, landschaftliche, archäologische Erinnerungsorte und deren potentielle Zerstörung bzw. Bewahrung. Etwas abstrakter betrachtet entstehen daraus aber ebenfalls Impulse, die im Zusammenhang der Forschung zu digitalen Sammlungs- und Überlieferungsstrukturen relevant sind.

Das ergibt sich bereits buchstäblich aus dem Titel: Kulturelle Erinnerungen und Kulturelles Erbe sind keine objektiven Tatsachen. Sie ergeben sich grundsätzlich und unvermeidlich aus der Praxis der Auswahl, des Einschlusses, des Ausschlusses, der Fortschreibung, Interpretation und Re-Interpretation. Entsprechend legitimiert oder vielmehr geradezu notwendig ist die Frage, wer und unter welchen Bedingungen und nach welchen Kriterien diese Prozesse steuert, durchführt und letztlich darüber entscheidet, was als kulturelles Erbe und soziales Erinnerungsgut in welcher Überlieferungsform bewahrt und nutzbar gemacht und gehalten wird?

Heritage Professionals vs. Wisdom of the Crowds(?)

Der letzte der 17 hochinteressanten Aufsätze, A glimpse into the crystal bowl: how do we select the memory of the future? von Monique van den Dries und José Schreurs, betont eine Verschiebung, die auch hinter dem Selbstverständnis des Digital Makerspace steht. Er thematisiert die Rolle der “heritage professionals”, zu denen die Mitarbeitenden in Archiven, Bibliotheken, Denkmalschutzbehörden und Museen zu zählen sind. Je nach Rolle fällt diesen traditionell ausdrücklich die Aufgabe der Entscheidungsautorität zum Überliefern und Bewahren zu. Im optimalen Fall folgen sie dabei elaborierten professionellen Standards und gehen so transparent wie nur möglich vor.

Im fortschreitenden 21. Jahrhundert und auch unter dem Druck der digitalen Dokumentationsmöglichkeiten, die diverse digitale Sicherungs- und Nachweisstrukturen für Kulturobjekte jenseits traditioneller Kulturerbeinstitutionen hervorbringen, wird diese Autorität zunehmend hinterfragt, kritisiert, häufig dekonstruiert.

Crowdbasierte und entsprechend vielfältige, teils auch zufällig und dynamisch entstehende datenbankbasierte Sammlungsstrukturen von Discogs über Wikimedia bis hin zu den breiten Angeboten des Internet Archive wirken nicht nur als Beschleunigung für die fachlichen Reflexions- und Entwicklungsprozesse. Sie verweisen auch auf die Diversität der Perspektiven, Anforderungen und Wünsche an kulturelle Überlieferungspraxen jenseits eines professionellen Kulturerbemanagements.

Die Ansprüche reichen dabei über den bloßen Breitenwunsch, auch die eigenen Passionen sichtbar zu halten, hinaus. Mit der Dekolonisierung werden generell auf Kulturerbepraxen vergangener Jahrhunderte aufbauende Konstruktionen von gesellschaftlicher Erinnerung nicht nur hinterfragt, sondern berechtigt radikal aufgearbeitet. Zahllose Beispiele zeigen, wie die Selektivität dieser sich meist auch als professionell verstehenden vergangenen Erinnerungsarbeit oft nichts weniger als eine Praxis eines teilweise nachlässigen, häufig jedoch vorsätzlichen Zerstörens, Überschreibens und Ausblenden war und nicht selten sogar noch ist.

Es gibt daher gute Gründe, die Bewertung und Bewahrung von potentiellem Kulturerbe partizipativ und integrativ zu gestalten. Objekte oder auch Orte sind zudem fast nie von konkreten Menschen, Gesellschaften oder Communities losgelöst: Die Akteure, die in der Entstehung, Entfaltung und Nutzung dieser Objekte eine Rolle spielten, sollten daher auch bei der Entscheidung über ihre Bewahrung und Bereithaltung in der Zukunft mitentscheiden können.

Der Digital Makerspace als Labor der Kulturerbeethik

Der Digital Makerspace kann hier eine Rolle als Kulturerbelabor und Dialogort übernehmen. Er kann ein Ort der aktiven Beschäftigung mit dem skizzierten Spannungsverhältnis, also des Interessenabgleichs zwischen zwei Perspektiven, sein. Auf der einen Seite stehen die durchaus berechtigen Ansprüche der Heritage Professionals, die mit ihren Erfahrungen von der Bewahrungsökonomie, Präsentations- und Vermittlungskompetenzen über Nachweissysteme bis hin zur digitalen Repräsentation von Kulturerbeobjekten eine Seite der Kulturerbepraxis absichern.

Auf der anderen Seite stehen vielfältige Communities mit unterschiedlichen Schwerpunkten und Nutzungsinteressen. Das betrifft die verschiedenen Communities der Forschung ebenso wie so genannten Laieninteressen und Bürger*innenwissenschaften oder auch übergeordnete Akteure der gesellschaftlichen Deutungsinstanzen wie Presse, Politik und Bildung. Die Grenzen zwischen diesen “Kulturen” sind durchlässig und mitunter individualisiert, was die Gemengelage nicht gerade vereinfacht.

Es gilt daher für die Vermittlung inkludierende und Partizipation fördernde Metastandards zu entwickeln. Ein wenig bewegt man sich dabei in Richtung einer Diskursethik, wie sie im 20. Jahrhundert durch Philosophen wie Karl-Otto Apel oder Jürgen Habermas entworfen und popularisiert wurde. Nur müsste die Kulturerbeethik des beschriebenen Szenarios stärker auf die Objekte und Erinnerungspraxen bezogenen Kommunikation als auf den fortlaufenden Diskurs an sich ausgerichtet sein.

Bindung und Bedeutung - heute und morgen

Eine wichtige weitere Ergänzung steuern Monique van den Dries und José Schreurs mit ihrem Blick in die “Kristallkugel” der Zukunft des kulturellen Gedächtnisses bei: Eine Perspektive auf Kulturorte bzw. Objekte, bei der auch emotionale Bindungen sowohl aktueller als auch zukünftiger Generationen berücksichtigt werden.

Im aktuellen bundesdeutschen Diskurs bieten beispielsweise die Debatten zum Erhalt der Architektur der Nachkriegsmoderne ein anschauliches Beispiel, in Weimar unter anderem anhand des Gebäudes der “Mensa am Park”. Aber auch Orte wie der Sowjetische Ehrenfriedhof am Ilmpark können nicht nur generell Fragen nach ihrer Rolle als überzeitlicher Erinnerungsort aufwerfen, sondern sogar zu entgegengesetzten Positionen führen, zwischen denen es dann wieder zu vermitteln gilt.

Aus der Alltagskulturforschung würde schließlich der Gesichtspunkt der potentiellen zukünftigen Relevanz zu ergänzen sein: Dinge, die uns heute selbstverständlich, allgegenwärtig und trivial erscheinen, werden gerade deshalb womöglich wichtige Erkenntnisschlüssel oder auch einfach nostalgische Stimulanzien für zukünftige Generationen darstellen.

Kulturerbearbeit heißt demzufolge, fall- und objektbezogen Potentialitäten in die Zukunft zu bedenken und dafür idealerweise im Wechselspiel zwischen professionellen Standards, empirischen Erfahrungen und dem Dialog mit Anspruchsträger*innen bzw. Communities Kriterien und Leitlinien zu explizieren und fortlaufend zu überarbeiten. Monique van den Dries und José Schreurs formulieren hierzu eindeutig die komplizierte Rolle der Heritage Professionals:

“We are stewards acting on behalf of the future recipients of our ‘gifts’, and we may believe we are doing the future a favour.  Yet the heritage that we protect, and the decisions we make today, could actually turn out to be a burden for those to whom we wish to bequeath heritage. It may even become a source of potential conflict.” (S.303)

Darüber hinaus weisen sie darauf hin, dass wir, die wir in diesem Feld aktiv sind, oft selbst mit den Resultaten der Kulturerbesteuerung und damit im Prinzip auch Mitgestaltung des kulturellen Gedächtnisses in der Vergangenheit konfrontiert sind, zugleich aber möglicherweise noch nicht zureichend daraus gelernt haben:

“The fact that contemporary heritage managers are not always satisfied with what they have inherited from the past, nor with the selections from the past that they pass on, illustrates that we in turn may fail to satisfy future generations. Yet in ordinary practice we do not really acknowledge that circumstances may change over time, as may the values future generations may ascribe to heritage. We scarcely evaluate our policies and actions against our long-term objectives, nor do we anticipate changes that our crystal balls may foretell.” (S.303)

Wir als Team des Digital Makerspace würden uns freuen, wenn es gelänge, diesen Raum auch zu einem Dialog- und Lernort in dieser Frage zu entwickeln.

 

Quelle: Monique van den Dries, José Schreurs: A glimpse into the crystal bowl: how do we select the memory of the future? In: Apaydin, Veysel (Hrsg.): Critical Perspectives on Cultural Memory and Heritage Construction, Transformation and Destruction. London: UCL Press, 2020. 10.14324/111.9781787354845 

 

 

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