(Foto: Alex Holz)

Friedrich Kittlers digitaler Nachlass

Kittlers Nachlass ist seit bald 10 Jahren im DLA Marbach und seitdem kam kein digitaler Vor- oder Nachlass hinzu, der einen größeren Umfang hat als dieser. Immer noch gehört Kittlers Nachlass mit 762 Datenträgern (648 Disketten, 100 optische Medien, 1 USB-Speicher, 12 Festplatten) und einer Größe von 1,6 TB zum quantitativ größten digitalen Bestand im DLA. Berücksichtigt man Kittler nicht, umfassen die gesamten digitalen Vor- und Nachlässe von etwa 70 Bestandsbildner*innen im DLA (also im Archiv, nicht in der Bibliothek) derzeit mit etwa 1600 Datenträgern insgesamt knapp 5,2 TB. „Friedrich Kittler hat nicht nur Texte, Bilder und Videos hinterlassen, sondern auch Relikte seiner programmierenden Tätigkeiten.“ (Enge/Kramski 2017).

 

Erste Phase 2012-2014

In den Jahren 2012 bis 2013 galt es, diesen neuen Bestand analog zu sichten, zu sortieren und zu verzeichnen. Dieser Workflow wurde bereits dokumentiert und publiziert (vgl. Enge/Kramski 2017). Die PCs, Laptops und physischen Datenträger zu sortieren, reicht (anders als beispielsweise das Sortieren von Papiermanuskripten) allerdings nicht aus, um den Nachlass zu katalogisieren. Im DLA haben wir für digitale Vor- und Nachlässe eigens sogenannte „Digital Curator[s]“, die man auch Data Librarian oder „Datenarchäolog[innen]“ nennen könnte (Bülow/Kramski 2011: 159), die seit Mitte der 2000er Jahre immer wichtiger werden (Jaillant 2022: 8). Diese bereiten ‚rohe‘ digitale Nachlässe für verschiedene Anliegen auf. Bei digitalen Archivobjekten „muss die Lese‐ und Interpretationsfähigkeit [nämlich] zuerst aufwendig hergestellt werden.“ (Bülow/Kramski 2011: 159) Zudem ist eine manuelle Sichtung der Dateien bei einem kleineren digitalen Nachlass zwar vorstellbar, für Kittlers Nachlass allerdings wegen des Umfangs und der Art der Dateien eher unpraktisch.

Als der Nachlass Friedrich Kittlers 2012 ins Deutsche Literaturarchiv Marbach kam (2014 kamen nochmals weitere Laptops, Disketten und ein Rechner dazu), stellten bereits das Sortieren der Rechner und Datenträger alleine aufgrund des Umfangs Schwierigkeiten dar.

So bestand die Arbeit in den Jahren 2012 und 2013 darin, den Bestand zunächst auch analog zu sichten und zu sortieren. Im Folgenden soll es darum gehen, wie ein digitaler Nachlass wie Kittlers für die Erschießung und Erforschung aufbereitet und analysiert werden kann. Denn eine manuelle Sichtung würde bei diesem Umfang und der Art der Dateien nicht genügen. So war auch bei der ersten Sortierung das ‚Aussortieren‘ von hunderttausenden nicht-unikalen Dateien, also Dateien, die nicht von Kittler selbst stammen, nur mit Hilfe von automatischen, digitalen Verfahren möglich (Enge/Kramski 2017).

(Foto: DLA)

Die Zusammenstellung eines Arbeitskorpus aus Kittlers Nachlass

Der aktuelle Kittler-Bestand im Indexer (Stand September 2022) umfasst ca. 3,3 Millionen Dateien. Allerdings benötigt es mehrere Arbeitsschritte, bis man zu einem kuratierten Korpus gelangt, mit dem eine sinnvolle Erforschung des Nachlasses möglich wird.

Der erste Schritt besteht im ‚Identifizieren und Aussortieren‘ von hunderttausenden nicht-unikaler Dateien, also Dateien, die nicht von Kittler selbst erstellt wurden. Dies erfolgte automatisiert vor allem über einen Abgleich mit der National Software Reference Library (NSRL) des NIST[1]. Für solche Vorgänge sind auch KI-gestützte Methoden denkbar; allerdings werden solche derzeit eher für „low-level tasks“ herangezogen, etwa bei der Identifizierung von sensiblen persönlichen Informationen (Jaillant 2022: 14). Damit gelangten wir zu etwa 2,25 Millionen Dateien.

In einem nächsten Schritt wurde die Menge auf die Dateien begrenzt, die von Seiten der Nachlassverwaltung begutachtet und mit einem Status versehen wurden (freigegeben, vorläufig gesperrt, gesperrt). Unser Arbeitskorpus ist also als Momentaufnahme zu sehen, da er nur auf den bereits bewerteten Dateien basiert. Ohne die bislang unbekannten bzw. noch nicht bewerteten Dateien kommen wir auf 219.989 Dateien.

Aus dieser Menge wurden zuletzt nun die für die Forschung vollständig freigegebenen Dateien (Metadaten und Inhalt) herausgefiltert, die zudem von Kittler erstellt wurden. Wir landeten bei etwa 30.000 Dateien, also etwa 0,88% von den 3,3 Millionen Dateien.

Bei den meisten Dateien in unserem Arbeitskorpus handelt es sich um Textdateien in unterschiedlichsten Formaten. Kittler hat „nicht nur Texte, Bilder und Videos hinterlassen, sondern auch Relikte seiner programmierenden Tätigkeiten.“ (Enge/Kramski 2017). Er interessierte sich neben der Literatur, Musik und Philosophie vor allem für Technologien, Medien und das Programmieren (Winthrop-Young, 2017: 210). „Gar nichts daran ist ungewöhnlich, außer dass ein brillanter, habilitierender Germanist mit ebensolcher Begeisterung das Gleiche tut wie ungezählte Teenager in dieser Zeit: herumspielen, ausprobieren, Programmcode abtippen, autodidaktisch lernen, Prozessorhandbücher und Befehlslisten griffbereit haben, von Hochsprache zu Assemlber wechseln, und überhaupt schauen, ‚was so geht‘ - immer gegen den Widerstand von zu wenig Speicher und zu wenig Rechenleistung.“ (Pias 2014: 39–44). Das spiegelt sich in gewisser Weise auch in seinem Nachlass wider. So befinden sich im Arbeitskorpus beispielsweise auch mit Kommentaren versehene Dateien der Programmiersprache C/C++ (insbesondere *.c und *.h-Dateien).

Zum Weiterlesen

  • In unserem Blogpost "Forschungsliteratur zu Friedrich Kittler" stellen wir eine Bibliografie mit Forschungsliteratur zu Kittler zur Verfügung.
  • Dîlan Canan Çakir/Alex Holz: “Vom Finden, Filtern und Auswerten der relevanten Daten im digitalen Nachlass von Friedrich Kittler im Deutschen Literaturarchiv Marbach“, in: DHd2023 Open Humanities, Open Culture. Trier/Luxemburg 2023, https://doi.org/10.5281/zenodo.7715546.
  • Unser Poster "Vom Finden, Filtern und Auswerten der relevanten Daten im digitalen Nachlass von Friedrich Kittler im Deutschen Literaturarchiv Marbach" für die DHd23 kann hier eingesehen und heruntergeladen werden: https://doi.org/10.5281/zenodo.7711511

     

 

Bibliografie

Bülow, Ulrich von/Kramski, Heinz Werner. „‚Es füllt sich der Speicher mit köstlicher Habe‘ – Erfahrungen mit digitalen Archivmaterialien im Deutschen Literaturarchiv Marbach.“ In: Neues Erbe: Aspekte, Perspektiven und Konsequenzen der digitalen Überlieferung, hg. v. Caroline Y., Hauser Robert, Robertson-von Trotha, 141–62. Kulturelle Überlieferung - digital 1. Karlsruhe: KIT Scientific Publishing, 2011.

Enge, Jürgen/Kramski, Heinz Werner. „Friedrich Kittler’s Digital Legacy – PART I - Challenges, Insights and Problem-Solving Approaches in the Editing of Complex Digital Data Collections.“ Digital Humanities Quarterly 11, Nr. 2 (22. Mai 2017). http://www.digitalhumanities.org/dhq/vol/11/2/000307/000307.html.

Jaillant, Lise. „Introduction.“ In: Archives, Access and Artificial Intelligence: Working with Born-Digital and Digitized Archival Collections, hg. v. Jaillant, Lise, 7–28. Bielefeld, Germany: Bielefeld University Press / transcript Verlag, 2022.

Pias, Claus. „Friedrich Kittler und der ‚Mißbrauch von Heeresgerät‘. Zur Situation eines Denkbildes 1964–1984–2014.“ Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 69, Nr. 791 (2015): 31–43.


[1] National Software Reference Library (NSRL) des National Institute of Standards and Technology. https://www.nist.gov/itl/ssd/software-quality-group/national-software-reference-library-nsrl (letzter Zugriff am 22.07.2022).

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