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Von der Briefmarke zum Tweet

Thesen zur Sammlungsforschung

Der Wunsch, die Dinge zu sammeln, zu ordnen und sie in einen neuen Rahmen zu setzen, ist so alt wie die Menschheit selbst. Was könnte uns also mehr über Motive und Werte, die Kultur und die Eigenheiten des Sammelns erzählen, als die Objekte, die sie für ihre Sammlungen auserwählt haben? Die Sammlungsforschung geht diesen einzigartigen Geschichten auf den Grund und ist damit für die Wissenschaft ein essentielles Werkzeug, um weit über den einzelnen Gegenstand hinaus in faszinierende kulturelle und persönliche Vermächtnisse zu blicken.


Unter der Leitung der MWW-Kollegin Joëlle Weis entstanden im Rahmen der Lehrveranstaltung »Zum Schatz erwählt – Privates Büchersammeln in der Frühen Neuzeit« an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf mehrere Gruppenarbeiten zum Thema »Was ist Sammlungsforschung?« Dieser Blogbeitrag zeigt eine Zusammenfassung der zentralen Thesen.

Schublade aus einem Mineralienschrank Goethes, Teil seiner mineralogischen Sammlung, Foto: KSW Museen

Was ist eine Sammlung? Auf den ersten Blick scheint es einfach, diese Frage zu beantworten: Wir alle kennen wissenschaftliche Sammlungen in Museen, die Briefmarkensammlungen unserer Großeltern oder die Textsammlung, die uns im Seminar zur Verfügung gestellt wird. Bei genauerer Betrachtung treten jedoch strukturelle Unterschiede zu Tage: Je genauer wir uns individuelle Sammlungen ansehen, desto unsicherer wird unsere Definition.

Sammlungsforschung beschäftigt sich genau mit dieser Vielfältigkeit und versucht, das Sammeln als elementare menschliche Kulturpraxis zu verstehen. Sammler*innen, sammelnde Institutionen, ihre Motive und Vorgehensweisen, der Anlass und der Sinn des Sammelns, die zum Teil sehr bewegten oder kontroversen Hintergründe – in diesem Mikrokosmos spiegeln sich Kultur und Zeitgeist der Sammelnden wider. Die Auseinandersetzung mit Sammlungen ist also auch immer eine Begegnung mit der Vergangenheit und den gesellschaftlichen Strukturen, die das Sammelverhalten, die Sammelmöglichkeiten und den Fortbestand einer Sammlung beeinflusst haben.

August der Jüngere, Herzog von Braunschweig-Lüneburg in seiner Bibliothek Kupferstich von Conrad Buno, um 1650, Foto: Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel

Perspektiven der Sammlungsforschung

Die Sammlungsforschung beschäftigt sich mit historischen oder noch existierenden privaten und öffentlichen Sammlungen von Personen oder Institutionen. Sie geht davon aus, dass Gegenständen durch den Akt des Sammelns ein zusätzlicher Kontext verliehen wird. Diese erweiterten Bedeutungsebenen werden durch die Sammlungsforschung aufgedeckt. Was macht die Akkumulation von Objekten zu einer Sammlung? Die Untersuchungsgegenstände der Forschung sind dabei so vielfältig wie die Sammlungen selbst und spiegeln das besondere Interesse der jeweiligen Sammelnden. Konkret fragt die Sammlungsforschung nach der Herkunft und dem Weg von Sammlungsgegenständen, der Funktion und Wahrnehmung von Objekten. Darüber hinaus spielen Fragen der Bewertung – sowohl im Sinne eines »kulturellen Kapitals« als auch konkret finanzieller Belange – eine zentrale Rolle. Auch unvollständige oder zerstörte Sammlungen geben einen interessanten Aufschluss über historische Ereignisse, denken wir etwa an Plünderungen im Dreißigjährigen Krieg oder die Bücherverbrennungen im NS-Regime.

Durch den Fokus auf Provenienz - also die Frage nach der Herkunft der Sammlungsobjekte - liegt ein Hauptaugenmerk der Sammlungsforschung daneben stets auf den Akteur*innen, die am Aufbau einer Sammlung beteiligt waren. Sammlungen können wichtige Bausteine bei der Erforschung von Personenbiographien sein, indem sie etwa besondere Interessen aufdecken oder sonstige Rückschlüsse auf die Lebensverhältnisse der Sammler*innen zulassen; gleichzeitig sind sie Spiegel von gesellschaftlichen Prozessen, dem Zeitgeist oder Trends. Sie zeigen, wie Menschen zu einer bestimmten Zeit ihre Umwelt wahrnahmen, ordneten und kategorisierten.

Aufgrund dieser vielfältigen Perspektiven muss Sammlungsforschung stets interdisziplinär angelegt sein und mit vielfältigen Wissenschaften und Fachrichtungen im ständigen Austausch stehen. Nur so kann die Menge und Vielseitigkeit sammelbarer Dinge sachgemäß gehandhabt werden.

Ziele

Neben dem Wunsch, Sammlungszusammenhänge kennenzulernen und zu verstehen, hat die Sammlungsforschung in den letzten Jahren auch viele sehr konkrete Aufgaben zu bewältigen.

Ein großes Feld ist, wie bereits erwähnt, die Provenienzforschung. Diese ist einerseits elementarer Bestandteile jeder Rekonstruktion der Geschichte einer Sammlung. Andererseits liegt der Provenienzforschung auch eine gesellschaftliche Verantwortung zu Grunde. Gerade im Kontext von NS-Raubgut oder kolonialer Kontexte spielt sie für die Restitution unrechtmäßig erlangter Objekte eine entscheidende Rolle. Hier rückt – im Auftrag der Aufarbeitung und Wiedergutmachung als zentralem Ziel – die Erforschung und Rekonstruktion nicht mehr bestehender Sammlungen in den Fokus.

Insgesamt hilft die Sammlungsforschung auch dabei, verlorengegangene Objekte – wir denken an Naturkatastrophen oder auch etwa Zerstörung durch den Nationalsozialismus – zumindest ideell wiederzufinden und ihnen einen Platz in der Erinnerung zu sichern. Auf diese Weise kann die Sammlungsforschung zum Erhalt von verloren gegangenem Wissen beitragen. Durch das Erhalten, Katalogisieren, Digitalisieren und Rekonstruieren von Sammlungen werden Zugang zu den Objekten und die damit einhergehenden Erkenntnisse auch für die Zukunft gesichert. Die Sammlungsforschung ist damit auch eine »Strategie gegen Vergänglichkeit und Vergessen«.[1]

Digitalisierung: Herausforderung und Chance

Gerade im Hinblick auf die Vergänglichkeit des Wissens liegt in der Digitalisierung der Sammlungsforschung eine große Chance. Durch die digitale Aufbereitung von Quellen und die Bereitstellung von Digitalisaten werden die Sammlungen weit über einzelne Institutionen hinaus greif- und erforschbar.

Dies geht aber gleichzeitig mit neuen Risiken des Vergessenwerdens einher. Sogenannte Born-digitals, also Quellen, die reiner digitaler Natur sind, häufen sich Jahr zu Jahr exponentiell, gewinnen dadurch an Bedeutung. Gleichzeitig stellen sie uns vor große Herausforderungen: Was vor einigen Jahren noch haptisch auf analogen Quellen aufbewahrt oder auch gesammelt wurde, wird gegenwärtig häufig digital gespeichert. Ein Verzeichnis oder Katalog zu einer Sammlung oder gar die Sammlung selbst können leicht auf Festplatten oder USB-Stick verewigt werden. Doch genau hier liegt die Gefahr: Wenn die Daten gelöscht werden oder nicht mehr lesbar sind, verschwindet damit ein Teil unseres historisch-kulturellen Erbes.

Dies wird besonders virulent im Hinblick darauf, dass es künftig Sammlungen von Dingen geben wird, bei denen wir heute noch am Anfang stehen, was Speicherung und Archivierung betrifft.

Was machen wir mit Sammlungen von E-Books, Twitter-Beiträgen oder YouTube-Videos? Werden digitale Sammlungen in ein paar Jahrzehnten noch nutzbar sein? Eine beunruhigende Entwicklung, die einem bei einer alltäglichen Datenflut von potenziellen digitalen Quellen (z. B. die ca. 320.000 E-Mails pro Sekunde weltweit oder 400 Stunden Videomaterial auf YouTube pro Minute) gar nicht so auffällt, aber: Digitale Objekte langfristig sicher zu speichern ist eine Herausforderung.

Einblick in den Nachlass von Friedrich Kittler, Foto: DLA Marbach

Der französische Philosoph Voltaire schrieb einmal: Die Vergangenheit sei ein »riesiges Lagerhaus, aus dem man nehmen muss, was einem von Nutzen sein kann«.[2] Doch was passiert, wenn dieses Lagerhaus gar nicht mehr betretbar ist? Es klingt abstrakt, aber ein »digital dark age« – ein Zeitabschnitt, der nicht mehr zu erforschen ist, weil Quellen fehlen – ist eine realistische Zukunftsvision. Eine wichtige Aufgabe der Sammlungsforschung wird es demnach zukünftig sein, die Ebene der Born-digital-Sammlungen mitzudenken, jetzt schon nachhaltige Lösungen zu produzieren und vor allem proaktiv für eine diesbezügliche Sensibilisierung einzutreten.

 

An diesem Blogbeitrag haben mitgeschrieben:

Vivian Abbing
Timo Allhoff
Hannah Becker
Daniel Boumanns
Johanna Broschk
Kathrin Eschenberg
Linda Förster
Sofie Fritz
Anna Herkelmann
Anke Hilger
Teresa Kaufmann
Rabea Kuschel
Eva-Maria Piechkamp
Malina Annika Lena Schilgen
Lisa-Marie Schmit
Katja Torkie
Selina Trothe
Florian Ulff
Büsra Vetter

 

Redigiert von Joëlle Weis.

 

[1] Clark, Christopher: Von Zeit und Macht. Herrschaft und Geschichtsbild vom Großen Kurfürsten bis zu den Nationalsozialisten, München 2018, S. 109. 


[2] Siebert, Irmgard: Bibliothek und Forschung. Die Bedeutung von Sammlungen für die Wissenschaft. Vittorio Klostermann. Frankfurt am Main 2011. S. 89.

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